Die Geschichte des Techno aus Berlin – Teil 1 – Bücher und Dokus

alternative Kunst für Diversität im Stadtbild steht

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Über die Geschichte von über drei Epochen Berliner Techno-Kultur ist in der Vergangenheit sehr originell und authentisch berichtet worden. DJs, Fotograf_innen, VJs, Clubbetreiber_innen und Zeitzeug_innen erzählen fundiert vom wilden Anfangsjahr 1989 bis zum Heute – über den Aufbruch, die Weiterentwicklung, über die Herausforderungen der Kommerzialisierung, Gentrifizierung und COVID-19 bis zu Überlegungen, wie sich Techno in Berlin wieder positiver ausrichten kann.


Die Geschichte der Clubkultur aus Berlin lässt sich anhand einer fundierten Auswahl an Büchern, Dokumentationen und Musik-Compilations erzählen. Dazu gehören Dokus, die heute frei über YouTube verfügbar sind, und detaillierte Fotobücher, die im gut sortierten Buchhandel zu erhalten sind. Auch die elektronische Musik selber, erlesen zusammengestellt auf der Compilation von „No Photos on the Dance Floor!“, führt durch die Geschichte der Berliner Techno-Club-Kultur, ebenso die neueste Veröffentlichung zum dreißigjährigen Bestehen des Tresor. Erlebnisse werden gegenwärtig, die von dröhnenden Bässen, pulsierenden Körpern und dem von den Decken tropfenden kondensierten Schweiß geprägt sind – intensiver kann das Erlebte nicht spürbarer werden.

Die Erkenntnis offenbart sich, dass es wirklich stattgefunden hat und hoffentlich bald in neuer Qualität wieder in den Clubs Einzug halten wird – die Erfahrung, mit enthusiastischem Blick in das unverhüllte Gesicht deines Gegenübers schauen zu können, auf dass man Emotionen wieder in den Gesichtern der Tanzenden lesen und sich daran erfreuen kann.

Das Gefühl der geschichtlichen Einmaligkeit“ und die Erinnerungen an die unbeschreiblichen Momente im Getümmel einer Techno-Nacht transformieren die Erlebnisse in den Gedanken im Hier, im Jetzt.

„Das Gefühl der geschichtlichen Einmaligkeit.“

Wolfgang Tillmans aus No Photos On The Dancefloor! Berlin 1989 – Today

Das Erlebnis einer ersten Techno-Nacht der heutigen Generation kann so aufregend, so frei und einzigartig sein, wie auch die unzähligste Nacht für die schon seit langer Zeit tanzenden Zeitzeug_innen. Das Vermächtnis der Stadt Berlin, ihre Techno-Kultur, erlebt gerade die härteste Prüfung. Jede neue Variante des Virus und jeder neue Anstieg von Infektionen führen auch von Woche zu Woche zu drastischen Entwicklungen der G-Regeln.

Dennoch blitzte es – in den letzten Monaten des Jahres 2021, vor den erneuten Schließungen der Clubs am 8. Dezember – wieder an Clubs auf (ironischerweise unter Einhaltung strenger Einlass-Regelungen sowie dem bewährten Testen und Registrieren). Es war ein kurzer Wiederanfang, das Feuer des Techno aus Berlin am Leben zu erhalten. Zuvor war Kunst im Club für geraume Zeit die einzige Möglichkeit gewesen, einen Club von innen zu betreten und zu bestaunen – doch auf Dauer kann es nicht die Erfüllung sein. Auch wenn es für Künstler_innen eine Variante ist, ihre Werke einem breiteren Publikum vorzustellen, welches nicht nur aus Kunstfreunden sondern auch typischen Clubheads besteht, löste das Konzept eher eine Art von Irritation, Befremden und Nostalgie aus. Der Techno-Club ist ein Rückzugsraum, ein Ort für das respektvolle Feiern miteinander, der Ort für intensive Begegnungen – für die Ekstase und die Vergnügungen zur Musik.

Anfänge nach dem Mauerfall


Auferstanden aus Ruinen, wie sich eine frühe EP vom Techno-Club Tresor nannte, bot die neue Mitte Berlins nach dem Fall der Mauer eine große Vielfalt an Locations unterschiedlichster Qualität und Größe. Locations, die dem Techno-Sound aus Detroit, House Music aus Chicago, dem belgisch niederländischen New Beat oder dem Sound aus UK den passenden Rahmen gaben – und den Grund, Hedonismus und die neue Freiheit in Einigkeit ganz nach Berliner Art zu zelebrieren.

Wie Heiko Hoffmann in „No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989—Today“ darlegt,ereignete sich die Geburt der DJ-Kultur in Clubs wie Paradise Garage (New York 1976-1987) oder Warehouse, später Music Box (Chicago, 1977-1987). Im zweiten „Summer of Love“ entwickelte sich über den Weg von Ibiza nach London und Manchester das neue Phänomen Rave, das sich anschließend auch im Berliner Nachtleben entfaltete. Veranstaltungen wie Tekknozid oder Clubs wie Ufo, Tresor und Planet waren dann nach dem Mauerfall der Ausgangspunkt der ersten gemeinsamen Partykultur für Ost und West – und ein wichtiger Wegbereiter für eine der bedeutendsten europäischen Jugendkulturen, die es derzeit gibt.

Das Buch Der Klang der Familie – Berlin, Techno und die Wende, benannt nach dem gleichnamigen Techno-Track von 3 Phase feat. Dr. Motte, schildert sehr einfühlsam und real die damaligen Geschehnisse der Berliner Techno-Szene von 1989 bis 1999. Mit der sehr authentischen und lebendigen Art der Erzählungen wichtiger Protagonist_innen und Zeitzeug_innen gehört Der Klang der Familie zu einer der intensivsten Schilderungen dieser Epoche der Kultur des Berliner Nachtlebens. Das Buch der beiden Autoren Sven von Thülen und Felix Denk ist mittlerweile als Video-Dokumentation Party auf dem Todesstreifen verfügbar, und wer das Buch (in mehreren Sprachen übersetzt erhältlich) gelesen hat, wird in dem Filmbeitrag eine vortreffliche Ergänzung und eine Zeitreise in die Jahre des Aufbruchs finden können!

Für Felix Denk verstärkte Techno das Freiheitsgefühl zur Zeit der Wende, und nirgendwo erscheint ihm das Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten konzentrierter als in Berlin. Im rasanten Tempo der Techno-Musik verbindet der Film „Party auf dem Todesstreifen“ historische Aufnahmen von Partys und Locations mit Erinnerungen von DJs wie Laurent Garnier, Tanith und Marc Reeder, Kulturmanagern wie Dimitri Hegemann oder Johnnie Stieler sowie Nachtschwärmer_innen und Musiker_innen. Der Film schildert die Anarchie der ersten Phase der Berliner Techno-Szene wie auch die Verschmelzung von Ost und West. Techno charakterisiert nicht nur den Zeitgeist der Wendejahre, sondern ist auch die treibende Kraft hinter der ersten Jugendbewegung des wiedervereinigten Deutschlands. Dabei besteht gar kein Zusammenhang zwischen dem Entstehen der neuen Maschinenmusik und dem Mauerfall. In Ost-Berlin bricht das Regime zusammen, und die ehemalige Hauptstadt der DDR wird zur „Temporären Autonomen Zone“. Und auf einen Schlag sind da all diese neuen Räume zu entdecken: Keller im Ödland der Grenzstreifen oder ein Bunker aus dem Zweiten Weltkriegs. Illegal wird in verlassenen Fabrikhallen gefeiert, zu elektronischer Musik fast ohne Texte, und vor allem im schnellenRhythmus: Die Musik ist für die Jugend aus Ost und West vollkommen neuartig. Darüber hinaus gibt es die ungeahnten Möglichkeiten des politischen Umbruchs. In Ruinen entsteht eine prägende Jugendkultur der 1990er Jahre. In der sich bildenden Techno-Szene spielen die Kontraste zwischen den Kulturen für eine Weile keine Rolle mehr.

Die Dokumentation Party auf dem Todesstreifen beruht auf dem Buch „Der Klang der Familie – Berlin Techno und die Wende“

Mit der Dokumentation We Call It Techno! von 2008 geben Maren Sextro und Holger Wick ebenfalls einen fundierten Einblick über die frühe Techno-Szene Deutschlands und deren Kultur, zu der Berlin durch seine wiedergewonnene Freiheit einen großen Beitrag leisten konnte. Die beiden Zeitzeugen der vorweggenommenen Wiedervereinigung von Ost und West in Berliner Techno-Clubs zeigen den Beginn der Techno-Kultur über die Grenzen Berlins hinaus und schildern die Evolution der elektronischen Musikkultur in Deutschland (Beginn ca. 1987). Von der Gründung erster Techno-Clubs und Labels in Frankfurt am Main bis zum Einfluss der neuen Berliner Clubszene auf die elektronische Musikkultur zeigt We Call It Techno anhand zahlreicher Interviews mit Clubbetreibern, DJs, Journalisten und Zeitungsmachern in einzigartigem Filmmaterial, wie sich Techno in Deutschland zu einer neuen Jugendkultur entwickeln konnte.

Der neue Sound, die neuesten Technologien der Klangerzeugung und die politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit bilden Anfang der 1990er Jahre in Deutschland die Inspiration für eine neue Szenekultur, die den euphorischen Beginn einer neuen Epoche zelebriert. Die Aktivisten in den deutschen Metropolen erschaffen eine neue Clubkultur, in deren Zentrum Techno und House stehen. Die lokalen Szenen begegnen sich zum ersten Mal bei der Berliner Loveparade 1991. Eine Bewegung entsteht, die Lebensläufe und Karrieren verändert oder in Gang setzt. Experimente, Grenzüberschreitungen und DIY stellen das „Prinzip Techno“ dar. Fans werden zu DJs oder Partyveranstaltern, gründen Labels oder eröffnen Plattenläden. Die Szene weitet sich zu ihrem eigenen Kosmos aus. Die Netzwerke bilden sich jenseits der bestehenden Strukturen. Die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt.

Die DVD „We Call It Techno!“ exklusive und ausführliche Interviews sowie weitgehend unveröffentlichtes Film- und Fotomaterial aus den Jahren 1988 bis 1993

Die feministische Perspektive des Berliner Techno:
Das Buch Die heitere Kunst der Rebellion von Danielle de Picciotto

In ihrem vierten Buch Die heitere Kunst der Rebellion“ erzählt Danielle de Picciotto liebevoll und detailliert, wie sie ihre Lebenslust und Visionen im Berlin der Jahre 1987 bis 1994 in verschiedenen Unternehmungen wie Mode, Clubkultur und Livemusik zum Leben erweckte – in einer Zeit der bahnbrechenden Transformationen, die von dort aus die Welt veränderten.

Kulturbotschafterin Danielle de Picciotto ist Teil der Frauenbewegung in der elektronischen Musik und Clubszene Berlins, die Mitte der 90er zum Erstarken gekommen ist. Sie kam 1987 aus New York nach Berlin und arbeitet als interdisziplinäre Musikerin, Künstlerin und Autorin. Sie kooperiert mit internationalen Zentren des Goethe-Instituts sowie mit dem Auswärtigen Amt Berlin. Mit ihrem damaligen Lebensgefährten Matthias „Dr. Motte“ Roeingh initiierte sie am 1. Juli 1989 die erste Loveparade in Berlin.

Danielle de Picciotto

Ihre Geschichte erweckt Bilder nicht nur im Kopf, nein auch im Herzen zum Leben. Eindrucksvoll schildert sie, auch durch ihre Zeichnungen, wie sie die intensive Zeit nach ihrem Umzug aus New York nach Berlin erlebt hat. Auffällig ist hierbei, dass der Nährboden der Kunst – das freie Denken, das Entwickeln und Ausführen von Ideen, die einer konsequenten Entwicklung folgen und nicht einer machistisch-patriarchalischen Hierarchie die Treue leisten – zu den wichtigen Merkmalen einer jungen neuen Frau gehörte, die Berlin für sich erobert hat.

Buch von Danielle de Pichiotto
Das ausführliche Interview mit Danielle de Picchiotto ist im Artikel Frauen Power im Techno zu finden.

Neuanfänge und die Pilgerfahrt der Massen

Die nächste Epoche der Techno-Kultur aus Berlin von 1999 bis 2009 ist bestimmt von Schließungen durch Gentrifizierung, von großen Neuanfängen und dem starken Einfluss des Easyjetset-Tourismus auf das Berliner Clubleben. Nachdem Techno in Berlin Ende der 90er offensichtlich etwas an Bedeutung verlor, brodelte es bereits wieder im Untergrund. In den Jahren 2000 bis 2005 spürte man im Tresor nur noch ansatzweise etwas von der wilden euphorischen Zeit des Techno der 90er Jahre. Die negativen Ereignisse in Verbindung mit Türmafia oder regelmäßigen Razzien wegen des zu offensichtlichen Drogenkonsums und -handels ließen die Epoche Tresor an der Leipziger Straße etwas unsanft ausklingen. Die Schließung des Clubs am 16. April 2005 ließ dennoch die Hoffnung auf ein Wiedersehen keimen, und nach einigen „Tresor im Exil“-Partys in den Räumlichkeiten der Maria am Ostbahnhof oder im SO36 eröffnete der Tresor 2007 im Heizkraftwerk in der Köpenicker Straße 70. Die neuen Räume im puristischen Industrial Style bis zum gewohnten Holzboden im Globus gaben dem klaren und unverfälschten Techno-Sound der Stadt neben dem Berghain eine neue Wirkungsstätte, die durch ihre architektonische Beschaffenheit und die Lage wie geschaffen war für das nächste Kapitel Techno-Geschichte unter dem Einfluss des Easyjet-Tourismus.

LOST AND SOUND. Berlin, Techno und der Easyjetset von Tobias Rapp

LOST AND SOUND schildert anschaulich die Epoche 2000 bis 2009 der Berliner Techno-Clubkultur. Berlin entwickelte sich rasant von einem Untergrundspot zur Techno-Megacity für Clubber aus der ganzen Welt. Als die britische Fluglinie Ryanair ihr Angebot weit unter dem üblichen Preis, Service und Komfort anderer Fluglinien eröffnete und Berliner Hoteliers und Privathoteliers zum selbigen Zeitraum preiswerte Hotelzimmer und Wohnungen anboten, führte das unweigerlich zum Anstieg des Tourismus bis zu seinem exzessiven Boom vor der Pandemie.

Eine neue Generation von Techno-Club-Kollektiven eroberte sich ein treues Publikum und feierte in stillgelegten Wohnhäusern, auf alten Industriebrachen oder Grundstücken direkt an der Spree. Die Popularität von Techno in Berlin nahm nach dem ersten Boom Mitte der 90er und der Flaute Ende der 90er langsam wieder Fahrt auf.

Teilweise trafen die Clubber Samstag Vormittags mit dem Flieger ein und flogen Montag früh mit dem ersten Flieger wieder in die Heimat zurück oder blieben gleich in der Stadt. Die Techno-Szene traf sich in neuen Clubs an der East Side Gallery und am Spreeufer. In Clubs wie dem Ostgut (dem Vorläufer vom Berghain), der Maria, dem Watergate, der Bar 25 (heute Kater Blau), dem Casino (heute Suicide Club) und in Berlin Mitte im CookiesWMF oder Pfefferberg. Parallel wurde speziell an Sonntagen auf Partys in wechselnden Locations gefeiert. Beat StreetElectronic Love Lounge (heute Club Beate Uwe) und Anna Bar waren die IT-Partys der damaligen Techno-Szene. Es stimmte sich eine neue Phase der Techno-Kultur in Berlin ein und hüllte die Dancefloors in Electroclash, Minimal Techno und Techhouse. Das Ostgut, das von 1998 bis 2002 in einer alten Lagerhalle unweit des Areals der heutigen Mercedes-Benz-Arena residierte und nahe des Ostbahnhofes an den Abstellgleisen des ehemaligen Güterverkehrs lag, eröffnete 2004 das Berghain mit der Panoramabar und zwei Jahre später den Berghainfloor.

Techno ist tot, zumindest offiziell. In Wirklichkeit waren elektronische Musik und die nächtliche Subkultur des Ausgehens – jenseits von sozialen Utopien und Love Parade – nie kreativer und interessanter als heute. Und nie so an einem Ort konzentriert: Jedes Wochenende bevölkern junge Leute aus ganz Europa ein paar Kilometer am Berliner Spreeufer; sie kommen mit Billigfliegern und bleiben nicht selten, bis die letzte After Hour nach Tagen fast wieder ins nächste Wochenende mündet …“

„Lost And Sound“  Tobias Rapp

Tobias Rapp, Journalist und ein intimer Kenner der Szene, porträtiert die faszinierendste, exzessivste und insgeheim einflussreichste Hauptstadtkultur und ihre Protagonisten: Tänzer_innen und DJs, Musikproduzent_innen und Stadtplaner_innen. Clubs wie die Bar25 konnten, mit eingebautem Dezibel-Killer, keine extreme Kick-Bass-fundamentierte elektronische Musik spielen, da eine nur kleine Holzhütte mit nach außen offenem Charakter und viel Außenfläche keine perfekte Schallisolierung zuließ. Der Sound des Techno entwickelte sich an Orten wie diesem daher zu einer verspielten leichteren Facette elektronischer Club-Musik, die eher einen Vergleich zu einem Sound zuließ, wie er auf Ibiza in quirligen Strandbars anno 2000 gespielt wurde, nur eben auf dem musikalischen Niveau und im Spirit der Berliner DJs und Produzenten. Seine Definition beinhaltet weniger BPM, dafür verspultere, melodiösere Techno-Sounds. Hippieesker Techno oder Zirkusdisco, die im Volksmund veredelten Begriffe treffen nur eine oberflächlich betrachtende Sichtweise auf diese Weiterentwicklung von Techno – vagabundengleiche Bündnisse, die sich besonders im Stadtteil Friedrichshain am Ostkreuz in der Nähe der Spree etabliert haben. Die Bar 25 begründete mit ihrem Konzept, auf einer Brache unweit des Ostbahnhofes mit direktem Zugang zur Spree, die Weiterentwicklung der Berliner Club-Archetypen, und zahlreiche neue Clubs mit verwandter Ideologie gingen aus dieser Ära hervor. In den neuen Clubs tanzte und feierte eine aufgeschlossene neugierige Generation. Offen dafür, die Grenzen des Hedonismus in neuer Qualität und Quantität herauszufordern.

Techno Culture – Entgrenzung, Zusammengehörigkeitsgefühl und Ekstase

Der Filmbeitrag Feiern – Don´t Forget To Go Home (2006) von Maja Classen erzählt von dem besonderen Moment, dem Bündnis aus Euphorie und Ekstase, den die Techno-Crowd zur Musik des DJs entstehen lässt. Nur hier in dieser magischen Zone aus Zusammengehörigkeitsgefühl, Entgrenzung und Alltagsbefreiung findet sich dieses unbeschreibliche Gefühl, jetzt und hier am richtigen Ort zu sein. Serotonine und Endorphine dienen im menschlichen Körper unter anderem zur Signalübertragung oder als Glücksbotenstoffe, wie sie bei sexueller Aktivität und durch Freude ausgeschüttet werden. Durch den Einfluss von XTC oder anderen Drogen kann diese Wirkung verstärkt und verlängert werden. „Feiern“ schildert die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem Alltag auf verführerische Weise. Anhand der Erzählungen von Protagonist_innen dieser Zeit, DJs und DJanes, Ravern, Barfrauen, Produzent_innen und Journalist_innen werden die unterschiedlichen Perspektiven und Ansprüche an das Feiern freigelegt.

In „Feiern – Don’t Forget To Go Home“ wird Berlin wieder zum Ort der Sehnsucht, an dem man alle bewundern kann, die „es wissen wollen“. „Feiern“ zeigt Feiern und Schwitzen,die Aufgewühltheiten und die Verzauberungen. Erzählt wird die Geschichte von Menschen, die sich und ihr Leben der Musik, der Clubs und den Drogen hingeben. Es sind Geschichten über demolierte Existenzen oder über intensive Erlebnisse der Zärtlichkeit. Jeder spricht davon, sein Glück zu finden die Zeit gemeinsamer Ekstase,der richtige Soundtrack zur richtigen Zeit, eine stundenlange Konversation mit dem Fremden, der über Nacht zum Freund wird oder das Gefühl in der Darkroom-Orgie, nichts weiter zu sein als rein physische Empfindung ineinander verschmolzener Körper. „Feiern“ wird in der Summe der Gespräche zu einem Familienfoto, einer melancholischen Hommage an einen besonderen Teil der Gesellschaft, der feiert, bis sich ein Husten in eine Lungenentzündung und ein Blackout in eine Psychose verwandeln. Der Londoner DJ und Produzent Ewan Pearson gibt lächelnd seinen Berliner Freunden einen Rat: Don’t forget to go home. Doch wenn sie nicht gegangen sind, so feiern sie noch heute.

Berliner Techno-Geschichte in der Art Gallery
No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989 Today

„Die Tradition des gemeinsamen Feierns in einem Raum, in dem man sich nicht nur in der Music verliert, lost in music, sondern in dem man sich frei und aufgehoben fühlen kann. Frei von Überwachung. Frei von Konsequenzen und dem Urteil der Welt da draußen.

Katalog NO PHOTOS On The Dance Floor! Berlin 1989—Today“ – Jan Kedves

Dreißig Jahre elektronische Clubkultur aus Berlin, tiefgründig kuratiert, recherchiert und zusammengefasst von Heiko Hoffmann und Felix Hoffmann. Die Ausstellung „No Photos on the Dancefloor!Berlin 1989 Today“ in der C|O Galerie erfasste elektronische Musik- und Clubkultur unter seinen wichtigsten Aspekten. Anhand zahlreicher Essays und Interviews von Zeitzeugen, den Initiatoren der Ausstellung, Künstlern, VJs und Journalisten, ergänzt durch Fotografien, Videostills und Flyer, werden die Zusammenhänge zwischen dem Club und der Kunst, der Hardware des Clublebens, die gegensätzliche Club-Ästhetik, die Hintergründe des Fotoverbots im Club sowie die Entstehung der Clubkultur und ihre Bezüge zur LGBTQ+ Community detailliert aufgezeigt.

Fotoverbot in Techno Club

„Diese Mischung aus Musik, Schweiß und bewegten Bildern war für mich das, was Benzin für einen Motor ist“

Katalog NO Photos On The Dance Floor! Berlin 1989Today“ Heiko Hoffmann_Initiator

Anschaulich werden die Zusammenhänge zwischen Kunst und Clubkultur, die Entwicklung visueller Aspekte, der Flyer oder die Bedeutung des VJ erläutert. Romuald Karmakar schildert die Entwicklung des VJ und erklärt, warum in den 90ern die visuelle Darstellung in Form von Video- oder Dia-Projektionen unabdinglich neben dem DJ zum festen Bestandteil des elektronischen Musikclubs gehörte. Ab dem neuen Jahrtausend richtet sich Lichtdesign im Clubkontext minimaler aus und lockert damit das bis dahin so gepflegte Bündnis aus Ton und bewegtem Bild auf. Zu stark die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Lichtakzente passten nicht mehr in die Definition des Clubs der Jahrtausendwende. Die Arbeit des VJs ist in der Gegenwart dennoch im Konzert-, Kunst-, und Festivalbereich fest verankert.

Trotz Fotoverbot in vielen Berliner Clubs sind seit jeher eindrucksvolle Fotografien aus dem Blickwinkel eines Mitgliedes der Gemeinschaft gemacht worden. Im Kontext der Ausstellung und des Inhaltes des Kataloges wird die Idee und Herkunft hinter den Fotografien aus sozialer und künstlerischer Seite erörtert. Unter anderem Sven Marquardt, Fotograf und Gesicht des Clubs Berghain, Ben De Biel, ehemaliger Clubbetreiber des Eimer und der Maria, die Fotografin Carolin Saage, damals Hausfotografin der Bar 25, Tilman Brembs, Zeitzeuge und Fotograf der Clubkultur der 90er Jahre, und Wolfgang Tillmans. Sie beleuchten die Clubkultur aus der Position ihrer Beteiligung und zeigen ihre Orte, Akteure, besondere Momente und Szenen einer Nacht.

Der ehemalige Groove-Journalist Thilo Schneider widmet der Ausstellung seinen Bezug auf grundlegende Fakten, die auf den Beginn und Entwicklungsphasen der Clubkultur verweisen. Über Stationen wie die der Weimarer Republik (20er Jahre), erste Clubs wie das Metropol am Nollendorfplatz, Techno der frühen 90er bis zum Ostgut und seinen Folgen zeigt Schneider wichtige geschichtlich relevante Stationen der Tanz- und Clubkultur Berlins und ihre Bedeutung als sozialem Freiraum auf.

Berlin hat es verstanden, sich ohne Sperrstunde einem traditionell unverklemmten Verhältnis zur Sexualität, einer laxen Drogenpolitik und einer kapitalismuskritischen Grundhaltung international als Ort der Freiheit zu positionieren. Dass sich ein großer Teil des Berliner Nachtlebens nie ganz einer neoliberalen Verwertungslogik beugen wollte, sondern kreativ, dynamisch und unvernüftig geblieben ist, drüfte ein Verdienst der LGBTQ+Communities sein“

Katalog NO PHOTOS On The Dance Floor! Berlin 1989—Today“ – Thilo Schneider

Martin Eberle und Philipp Sherburne schreiben über die Hardware des Clublebens und die gegensätzliche Clubästhetik.

Das schicke industrielle Design ist dabei nur ein Aspekt von vielen. Eine andere Ästhetik bietet sich in Clubs wie der früheren Bar 25, dem ebenfalls geschlossenen Kater Holzig, aber auch im Kater Blau, dem Salon zur wilden Renate und dem Club der Visionäre – mit einem schlichten Retro-Look im Esprit von Anarchie und Bohème oder Kulissen, die an die klassischen LSD-Visionen der ersten Techno-Club-Interiors in San Francisco erinnern. Hier ist das nächtliche Lebensgefühl nicht von der strengen Kühle des Industrial Style geprägt, sondern von Wärme, Fröhlichkeit und Gemütlichkeit.

Die räumlichen Grundbedingungen und die Ausgestaltungen der Clubsituation Eberle, seinerzeit selbst Clubbetreiber, erklärt die Hardware des Clublebens, die Archetypen, deren Konzept, ihre gegensätzlichen Raumformen und die Orte, an denen sich Clubleben in zahlreichen illegalen Nischen oder auf Spekulationsflächen unterschiedlichster Bauart intensiv erleben ließ. Eine Grundhaltung seiner Zeit war, sich das Verfügbare für seine Ideen nutzbar machen.

In der letzten Epoche von 2010 bis 2021 erlangte Berlin die wohl höchste Dichte an Orten, an denen zu Techno, Electro oder House Music gefeiert wurde. Auch aus den Stadtteilen Kreuzberg, Neukölln und Wedding gingen neue elektronische Clubs hervor. Am Kottbusser Tor eröffneten der Monarch und die Paloma Bar. In der Ritterstraße das Ritter Butzke, und am Ende der Sonnenallee am S-Bahnring stellte die Griessmühle (heute Revier Südost in Treptow) mit zusätzlichen Veranstaltern wie Slave To The Rave und Cocktail d`Amore den damaligen Zeitgeist auf ein neues Level. Durch Veranstalter wie WolleXDP, Tekknozid oder Stefan Schwanke mit Back to Basics fand sich auch die Euphorie aus den Gründerzeiten im Schmelztiegel einer Drei-Epochen-Techno-Generation wieder, die sich aus den Zeitzeugen und den Ravekids der Gegenwart bildete.

13. März 2020

Berliner Clubkultur in Zeiten der Stille – Marie Staggat und Timo Stein

Das Buchprojekt mit sozialem Hintergrund von Marie Staggat und Timo Stein fasst mit der Beteiligung von über zweiundvierzig beteiligten Clubs ein umfassendes Statement zur Corona-Krise und deren Auswirkungen auf die Clubkultur Berlins an. Seitdem am 13. März 2020 die COVID-19 Pandemie mit den Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Virus den gesamten Kulturbetrieb lahmgelegt hat, sind alle Berliner Clubs geschlossen (Stand Januar 2022). Durch die Interviews und Erzählungen mit den Haupt-, aber auch Nebenfiguren (Clubbetreiber_innen, Künstler_innen, Tresenkräfte, Toilettenmänner, Türsteher_innen oder Hausmeister_innen) sowie die fotografische Darstellung der von Menschen entleerten Clubs wird das Ausmaß der vorübergehenden Schließungen – ein ein intensives nachdenkliches Mahnmal – in den Lebenslauf der Berliner Clubgeschichte gestellt. Es sind aber nicht nur die Ängste der Betreiber vor Schließungen und Prognosen, die negative Entwicklungen der Clubkultur in Erwägung ziehen, nein, es erzählt auch von den Chancen, die sich aus dieser Krise entwickeln können.

Ich glaube, dass dieser Moment, den wir durchleben, ein bis zwei Jahre andauern wird. Vielleicht können einige aus dieser Situation etwas lernen, was man heute gar nicht abschätzen kann, weil es jetzt erst einmal wehtut, sich vielleicht aber später herausstellt, dass man Prozesse in die Wege geleitet oder Ideen und neue Kreativkonzepte entwickelt hat, die es ohne die Krise nicht gegeben hätte.

HUSH – Tim Leginski, Prince Charles

HUSH zeigt den sozialen Charakter der Berliner Clubkultur auf : Vielseitigkeit und Zusammenhalt der Szene, die Herkunft der Erzähler, ihre persönlichen Entwicklungen im Clubkontext und das Erstarken zahlreicher Projekte wie Crowdfunding, Podcasts oder United We Stream, die den Clubs, deren Angestellten und Künstlern Spenden zur Zahlung der laufenden Kosten einbrachte. Clubkultur ist systemrelevant – das allumfassende Masterkeyword. Ebenso hebt HUSH das unermüdliche und unverzichtbare Engagement der Berliner Clubcommission gegen demokratiefeindliche Strömungen im Techno hervor.

Buchprojekt über die Schließung der Techno Clubs durch
            den Corona Virus
HUSH – Sozial ausgerichtetes Buchprojekt von Marie Staggat und Timo Stein.

HUSH beschreibt die vom Pioniergeist getriebenen Visionen und die Fähigkeit der Clubbetreiber*innen, sich mit widrigen Umständen auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel sich durch den bürokratischen Dschungel zu kämpfen, um staatliche Hilfen zu beantragen. Der Fortbestand des Clubs ist das primäre Ziel. Zum Tragen kommen auch die Erfolgsgeschichten von Clubs wie dem Humboldthain oder Anita Berber, die sich im einst partyuntauglichen Wedding zu festen Größen entwickelt haben

In der Corona-Krise zeigt sich außerdem, dass Clubmanager auch Krisenmanager sein könnenZum Optimismus gehört vor allem die Hoffnung, dass die Kultur der Musik- und Tanzclubs wieder hochfahren wird, so dass die Möglichkeiten erneut unbegrenzt sein werden und eine unendliche Ekstase auf den Dancefloor zurückkehrt. Akteure wie Finn Johannsen (Power House, Paloma Bar) kündigen an, dann „alle Register“ zu ziehen.

Die Pandemie wirkt sich jedoch nicht vollkommen negativ aus, da sie auch zum Nachdenken über den Zustand der heutigen Gesellschaft anregt. Gerade der Turbo-Tourismus-Kapitalismus der letzten Jahre hat das Clubleben nicht nur positiv beeinflusst. Es finden somit auch Gedanken für neue Ideen und Veränderungen Anklang. Ein Umdenken, ein Besinnen – was können wir aus der Krise lernen und in Zukunft besser machen? Wichtige Aspekte wie mehr Umweltbewusstsein  – Green Clubbing – oder die Nutzung der eigenen künstlerischen Ressourcen unserer Stadt stehen in den Startlöchern. Benedikt Bogenberger, Resident-DJ und Sprecher der Wilden Renate, sieht als eine mögliche positive Auswirkung der Krise, dass die Szene wieder lokaler wird und „… DJs nicht andauernd um die ganze Welt geschickt werden“.

Auch die TAZ weist auf den eindrücklichen Charakter der Bilder von HUSH hin, die die Betrachtenden in den Bann ziehen und direkt ins Geschehen hineinführen, als sei man selber in der Paloma Bar oder der Wilden Renate in der wunderschönen Heruntergekommenheit Kreuzbergs. Die Akteure des Geschehens zeigen sich in der Krise auf vielerlei Art, entweder verzweifelt oder krisenfest. Eines jedoch erweist sich vor allem in dieser Dokumentation der Krise – die Berliner Clubkultur ist ein Ort der Heimat.

„Party abgesagt“

Seit dem 8. Dezember 2021 befindet sich die Berliner Clubkultur coronabedingt erneut im Lockdown. Die kurz zuvor noch freudig angekündigten neuen Veranstaltungen müssen wieder ausfallen. Die Clubcommission zeigt sich streitbar – die Clubs können nicht einfach von der Politik als die Pandemietreiber hingestellt werden. Doch wie kann sich ein wirkungsvoller Protest in der Stadt formieren? Wie sich die Dinge auch entwickeln in der nächsten Zeit – die Berliner Techno-Kultur wird weiter bestehen und wie ein Phoenix aus der Asche aufsteigen, ganz nach dem Motto: To be continued …

Coming Soon! Die Geschichte des Berliner Techno Teil 2 – Compilations und die Zeit nach dem Tanzverbot